Nachtfähre nach Tanger
Kevin Barry
Rowohlt, 2022

Maurice Hearne und Charlie Redmond sind zwei alternde, irische Gangster, die in dem leblosen Fährhafen von Algeciras zusammensitzen. Sie warten auf Maurice‘ Tochter Dilly, die er seit drei Jahren nicht mehr gesehen hat. Berichten zufolge wird sie innerhalb der nächsten 24 Stunden mit einem Schiff aus Tanger abreisen oder ankommen. Während sie auf Dilly warten, driften sie ab in ihre Vergangenheit, und ihre Erinnerungen führen uns durch eine Biografie voller Drogen, Gewalt, Alkohol und Sex.

„Die Männer sitzen ruhelos auf der Bank. Blicken vom hohen Haufen ihrer Jahre herab. Und sind jetzt alt genug für die lange Sicht in beide Richtungen.“

Es ist schwierig, aus einer Geschichte, die im Wesentlichen nur aus zwei Menschen besteht, die auf jemanden warten, eine fesselnde Erzählung zu machen und doch lässt einem hier die Geschichte nicht mehr los. Maurice und Charlie haben sich nach jahrzehntelanger Freundschaft nichts mehr neues zu sagen, währenddessen zahlloses unausgesprochen bleibt. Barry präsentiert hier ein unglaubliches Feingefühl für den menschlichen Dialog, dessen Trauer, Hass und unendliche Zuneigung man auf jeder Seite spürt.

„Aber durch das Stück Himmel draussen sah er die ersten Schwalben des Jahres jagen und schnell ihre sichtbaren Fäden ziehen, die, wie er wusste, die Welt zusammenhielten.“

Romane, die sich mit einem so düsteren Thema befassen, laufen Gefahr, den Leser zu ersticken oder unter der Last ihrer Düsternis zusammenzubrechen. Doch Barry umgeht dies mit aussergewöhnlich menschlich gezeichneten Figuren. Seine Prosa ist erhaben und lyrisch, mit seinen geschickten Wechseln im Tonfall, seinem Gebrauch der Umgangssprache und seiner Einbeziehung des Fantastischen verwandelt er „Nachtfähre nach Tanger“ in einen bemerkenswerten Roman, ein Buch, das sowohl abstossend als auch mitfühlend ist und mit wundervoller Sprache die Leben seiner Protagonisten ausrollt.

Buchempfehlung von Nicolas Gassmann